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Tess wurde schlagartig wach.
Mist. Für wie lange war sie eingedöst? Sie saß in ihrem Büro, ihre Wange ruhte auf Shivas Akte, die offen auf dem Schreibtisch lag. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie den unterernährten Tiger abgetastet und ihn zurück in seinen Käfig geführt hatte, um dann ihren Befund niederzuschreiben. Das war - sie sah auf ihre Armbanduhr - vor zweieinhalb Stunden gewesen. Es war kurz vor drei Uhr morgens. Um sieben fing sie schon wieder in der Klinik an.
Tess gähnte tief und streckte ihre verkrampften Arme.
Da hatte sie aber Glück gehabt - sie war aufgewacht, bevor Nora am Morgen zur Arbeit kam. Sonst hätte sie vielleicht was zu hören bekommen …
Irgendwo im hinteren Teil ihrer Klinik hörte sie ein lautes, polterndes Geräusch.
Was zum Teufel …?
War sie eben wegen eines ähnlichen Geräuschs so plötzlich aufgewacht?
Oh, Mist, natürlich. Ben. Er musste noch mal an der Klinik vorbeigefahren sein und das Licht gesehen haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass er auf einer nächtlichen Spritztour vorbeikam, um nach ihr zu sehen. Auf eine Gardinenpredigt zu ihren verrückten Arbeitszeiten oder ihrem störrischen Hang zur Unabhängigkeit hatte sie nun weiß Gott keine Lust.
Wieder hörte sie das Geräusch, ein rumpelndes Poltern, gefolgt von einem abrupten metallischen Klirren, als etwas von einem Regal geschlagen wurde.
Was bedeutete, dass jemand hinten im Lagerraum war.
Tess stand auf und ging ein paar zögerliche Schritte auf ihre Bürotür zu, lauschte auf das kleinste untypische Geräusch. Die frisch operierten Katzen und Hunde in ihren Käfigen hinter dem Empfangsbereich wurden unruhig. Einige jaulten, andere ließen tiefe, knurrende Warnlaute hören.
„Hallo?“, rief Tess in den leeren Raum. „Ist da jemand? Ben, bist du das? Nora?“
Niemand antwortete. Und die Geräusche, die sie vorher gehört hatte, waren nun auch verstummt.
Na großartig. Jetzt hatte sie einem Einbrecher ihre Anwesenheit verkündet. Brillant, Doktor Culver. Absolut spitzenmäßig.
Sie versuchte sich zu trösten, indem sie ihren Verstand zu Wort kommen ließ. Vielleicht war es nur ein Obdachloser, der einen Unterschlupf gesucht und es irgendwie geschafft hatte, von der hinteren Gasse hereinzukommen. Kein Einbrecher. Gar nichts Gefährliches.
Ach so? Und warum prickelten dann vor Angst ihre Nackenhaare?
Tess stopfte die Hände in die Taschen ihres Laborkittels und fühlte sich auf einmal sehr verwundbar. Sie spürte in der Tasche ihren Kugelschreiber, der gegen ihre Finger schlug. Und da war auch noch etwas anderes.
Stimmt ja. Die Spritze mit dem Betäubungsmittel, randvoll mit Anästhetika, genug, um ein Tier von zweihundert Kilo außer Gefecht zu setzen.
„Ist da jemand?“, fragte sie erneut und versuchte, ihre Stimme stark und ruhig klingen zu lassen. Am Empfangstresen blieb sie stehen und griff nach dem Telefon. Das verdammte Ding war nicht schnurlos - Billigware vom Ausverkauf - , und über den Tresen reichte der Hörer kaum bis an ihr Ohr. Tess ging um den hufeisenförmigen Tisch herum und sah nervös über die Schulter, als sie auf dem Ziffernblock die Nummer des Notrufs wählte. „Sie verschwinden besser sofort, weil ich nämlich gerade die Polizei anrufe.“
„Nein … bitte … haben Sie keine Angst …“
Die tiefe Stimme war so schwach, dass sie sie fast nicht gehört hätte. Aber sie hörte sie. So deutlich, als hätte jemand die Worte neben ihrem Kopf geflüstert. In ihrem Kopf, so seltsam das war.
Sie hörte ein trockenes Krächzen und ein heftiges, bellendes Husten, definitiv aus dem Lagerraum. Und wem auch immer diese Stimme gehörte, es klang, als litte er höllische Schmerzen, als sei er verletzt. Lebensgefährlich verletzt.
„Verdammt.“
Tess hielt den Atem an und legte den Hörer auf, bevor am anderen Ende jemand abnahm. Langsam ging sie auf den hinteren Teil der Klinik zu, nicht sicher, was sie dort vorfinden würde. Sie wünschte sich wirklich, gar nicht erst nachsehen zu müssen.
„Hallo? Was machen Sie da drin? Sind Sie verletzt?“
Sie redete mit dem Eindringling, während sie die Tür aufstieß und hineinging. Sie hörte mühsames Atmen, roch Rauch und den brackigen Gestank des Flusses. Und sie roch Blut. Eine Menge Blut.
Tess knipste das Licht an.
An der Decke sprangen summend die grellen Neonröhren an und beleuchteten einen unglaublichen Anblick: den riesenhaften Körper eines völlig durchnässten, schwer verletzten Mannes, der bei einem der Materialregale zusammengesunken war. Er sah aus wie ein schräger Grufti-Albtraum: schwarze Lederjacke, T-Shirt, Drillichhosen und geschnürte Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Sogar sein Haar war schwarz, die nassen Strähnen klebten ihm am Kopf und verdeckten sein abgewandtes Gesicht. Eine hässliche Spur aus Blut und Flusswasser zog sich von der Hintertür, die zur Gasse halb offen stand, bis zu der Stelle, wo der Mann in Tess’ Lagerraum zusammengebrochen war. Er hatte sich offensichtlich kriechend hereingeschleppt, wahrscheinlich konnte er nicht mehr gehen.
Wenn sie es nicht gewohnt gewesen wäre, die grauenvollen Folgen von Verkehrsunfällen, Schlägen und anderen körperlichen Traumata Tag für Tag an ihren Tierpatienten zu sehen, hätte der Anblick seiner Verletzungen Tess den Magen umgedreht.
Stattdessen schaltete sich nun ihr Verstand ein. Die aufsteigende Panik und der instinktive Drang, zu kämpfen oder zu fliehen, die sie eben noch im Empfangsraum gespürt hatte, wichen nun der Ärztin, zu der sie ausgebildet war. Jetzt war sie nur noch nüchtern, ruhig und besorgt.
„Was ist mit Ihnen passiert?“
Der Mann stöhnte und schüttelte leicht seinen dunklen Kopf, so als ob er ihr nicht davon erzählen wollte. Wahrscheinlich konnte er das auch gar nicht mehr.
„Sie haben überall Brand- und Fleischwunden. Mein Gott, das müssen ja Hunderte sein. Hatten Sie einen Unfall?“ Sie sah an ihm hinab, eine seiner Hände ruhte auf seinem Unterbauch, und durch die Finger sickerte Blut aus einer frischen, tiefen Wunde. „Sie bluten aus dem Bauch - und an den Beinen auch.
Lieber Himmel, sind Sie angeschossen worden?“
„Brauche … Blut.“
Da hatte er vermutlich recht. Der Boden, auf dem er lag, war rutschig und dunkel von dem Blut, das er seit seiner Ankunft in der Klinik verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er auch schon vorher eine Menge Blut verloren. Fast jeder Zentimeter seiner unbedeckten Haut war voller Wunden - sein Gesicht und Hals, seine Hände. Wo Tess auch hinsah, überall sah sie blutende Schnitte und Quetschungen. Seine Wangen und sein Mund waren von gespenstischer Blässe.
„Sie brauchen einen Notarzt“, sagte sie zu ihm. Sie wollte ihn nicht beunruhigen, aber verdammt, er war in einem bedenklichen Zustand. „Entspannen Sie sich. Ich rufe Ihnen einen Krankenwagen.“
„Nein!“ Er bäumte sich aus seiner zusammengesunkenen Position auf, streckte in Panik die Hand nach ihr aus. „Kein Krankenhaus! Ich kann … kann da nicht hingehen … die werden …
können mir nicht helfen.“
Trotz seines Protestes wandte sich Tess ab und wollte ins andere Zimmer gehen, zum Telefon. Doch da erinnerte sie sich an den gestohlenen Tiger, der es sich in einem ihrer Behandlungsräume bequem gemacht hatte. Wo der herkam, war dem Rettungsteam sicher schwer zu vermitteln, und erst recht - Gott behüte - der Polizei. Die Waffenhandlung hatte vermutlich schon Anzeige wegen Diebstahl erstattet, oder zumindest würde das bald geschehen, sobald sie dort in ein paar Stunden öffneten und das Verschwinden des Tigers bemerkten.
„Bitte“, stöhnte der riesenhafte Mann, der dabei war, ihr die ganze Klinik vollzubluten. „Keinen Notarzt.“
Tess hielt inne und sah ihn schweigend an. Er brauchte Hilfe, und das nicht zu knapp - und er brauchte sie jetzt. Leider sah es so aus, als wäre sie derzeit seine einzige Chance. Was sie hier für ihn tun konnte, wusste sie nicht genau, aber vielleicht konnte sie ihn immerhin notdürftig zusammenflicken, ihn auf die Beine bringen und zusehen, dass er verdammt noch mal von hier verschwand.
„Na schön“, sagte sie. „Also erst mal doch kein Notarzt. Hören Sie, äh - ich bin auch Ärztin. Jedenfalls mehr oder weniger.
Das hier ist meine Tierklinik. Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich ein bisschen näher komme und Sie mir mal ansehe?“
Das Zucken seines Mundes und sein schmerzhaftes Ausatmen ließ sie als ein Ja gelten.
Vorsichtig ließ sich Tess neben ihm auf dem Boden nieder.
Vom anderen Ende des Raumes hatte er schon sehr groß ausgesehen, aber jetzt, wo sie neben ihm kauerte, sah sie, dass er wirklich ein Riese war, bestimmt zwei Meter groß und über hundert Kilo Gewicht, mit schwerem Knochenbau und bepackt mit fester Muskelmasse. Ob er Bodybuilder war? Einer dieser Machotypen, die ihr Leben im Kraftraum verbrachten? Aber irgendetwas an ihm sagte ihr, dass dem nicht so war. Mit seinem grimmig geschnittenen Gesicht wirkte er eher, als könnte er so einen aufgepumpten Eisenstemmer zum Mittagessen verspeisen.
Vorsichtig tastete sie sein Gesicht ab, suchte nach Brüchen.
Sein Schädel war heil, aber sie spürte, dass er eine leichte Gehirnerschütterung erlitten haben musste. Wahrscheinlich stand er immer noch unter Schock.
„Ich sehe mir nur mal Ihre Augen an“, informierte sie ihn, dann hob sie eines seiner Augenlider an.
Grundgütiger Himmel.
Die geschlitzte Pupille inmitten der riesigen, hellbernstein-farbenen Pupille erschreckte sie. Vor dem unerwarteten Anblick zuckte sie zurück.
„Was zum …“
Dann dämmerte ihr die Erklärung, und prompt kam sie sich wie eine komplette Idiotin vor. So die Nerven zu verlieren.
Gefärbte Kontaktlinsen.
Beruhige dich, sagte sie sich. Ihre Nervosität war völlig grundlos. Der Typ musste auf einer Halloweenparty gewesen sein, die irgendwie außer Kontrolle geraten war. Solange er diese lächerlichen Dinger trug, konnte sie über seine Augen nicht viel sagen.
Vielleicht hatte er in wilder Gesellschaft gefeiert; er sah groß und gefährlich genug aus, um Mitglied einer Gang zu sein. Aber selbst wenn er heute Nacht mit irgendwelchen zugedröhnten Bikern herumgezogen war, Anzeichen von Drogeneinwirkung konnte sie nicht an ihm entdecken. Sie roch auch keinen Alkohol. Nur einen schweren Qualmgeruch, und der kam nicht von Zigaretten.
Er roch, als wäre er durch Feuer gegangen. Und danach in den Mystic River gesprungen.
„Können Sie Ihre Arme und Beine bewegen?“, fragte sie ihn und machte sich daran, seine Gliedmaßen zu inspizieren. „Denken Sie, Sie haben was gebrochen?“
Tess tastete mit den Händen seine schweren Arme ab, spürte aber keine Frakturen. Auch seine Beine waren noch ganz, außer der Schusswunde in seiner linken Wade hatte er dort keine ernsthaften Verletzungen. Vermutlich ein glatter Durchschuss, die Kugel war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Das Gleiche bei der Schusswunde in seinem Unterbauch. Da hatte er großes Glück gehabt.
„Ich würde Sie jetzt gern in einen meiner Untersuchungsräume bringen. Glauben Sie, dass Sie gehen können, wenn ich Sie stütze?“
„Blut“, stöhnte er, seine Stimme war heiser. „Brauche es … sofort.“
„Tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht helfen. Dazu müssen Sie in ein Krankenhaus. Jetzt müssen wir Sie erst einmal von diesem Boden hochkriegen und Ihnen diese ruinierten Kleider ausziehen. Gott weiß, was für Bakterien Sie sich da draußen im Wasser eingefangen haben.“
Sie legte ihm die Hände unter die Achseln und begann ihn hochzuziehen, ihn zum Stehen zu ermutigen. Er knurrte, tief und grollend, wie ein Tier. Als das Geräusch aus seinem Mund kam, erhaschte Tess hinter der gekräuselten Oberlippe einen Blick auf seine Zähne.
Ups. Das ist komisch.
Waren seine monströsen Fangzähne etwa … Reißzähne?
Seine Augen öffneten sich, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. Mit einem Mal war Tess in durchdringendes, bernsteinfarbenes Licht getaucht, die glühende Iris sandte einen panischen Blitz in ihre Brust. Zum Teufel, das waren keine Kontaktlinsen.
Guter Gott. Mit diesem Mann stimmt etwas ganz und gar nicht.
Er packte ihre Oberarme. Tess schrie alarmiert auf. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu winden, aber er war zu stark.
Hände so unnachgiebig wie Schraubstöcke schlossen sich fester um sie und zogen sie näher. Tess schrie, ihre Augen geweitet vor Angst, ihr Körper schreckensstarr.
„O Gott, nein!“
Er wandte sein blutiges, zerschlagenes Gesicht ihrem Hals zu.
Holte scharf Atem, als er sich ihr näherte, seine Lippen ihre Haut berührten.
„Psssst.“ Warme Luft wehte um ihren Hals, als er mit einem tiefen, schmerzerfüllten Flüstern sprach. „Ich … tu dir … nicht weh. Versprochen …“
Tess hörte seine Worte.
Fast glaubte sie ihm.
Bis zu dem Augenblick unsagbaren Schreckens, als er seine Lippen öffnete und seine Zähne tief in ihr Fleisch schlug.